Das Hungerleiderhaus
gERÜCHTE UND wAHRHEIT
Im „Hungerleiderhaus“, benannt nach seinem letzten jüdischen Besitzer, dem Geflügelhändler Simon Hungerleider, spiegelten sich alle tragischen Ereignisse der Jahre 1938 bis 1945, Demütigung und Drangsalierung der Jüdinnen und Juden, die Reichsprogromnacht, Raub des Besitzes („Arisierung“) Verschickung in KZs und Todeslager und Ermordung, sowie der Kriegsdienst und Sterben an der Front, Gefängnis für Hören eines „Feindsenders“, Widerstand und Desertion, Bombenangriffe, das Elend der Nachkriegszeit wieder. Die tragische Geschichte seines „Namensgebers“ wie auch der anderen Jüdinnen und Juden, die mit dem Haus und der Familie in Verbindung standen, soll dem Vergessen entrissen werden.
Das unscheinbare graue Haus, die Nummer 10 in der Leopoldstädter Josefinengasse, war bis in die 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts als das Hungerleiderhaus bekannt. Um das Haus und seinen vormaligen jüdischen Besitzer , und „Namensgeber“ Simon Hungerleider, rankten sich allerlei Gerüchte denen der im Haus aufgewachsene Walter Schwimmer auf den Grund gehen wollte. Erstaunliches kam zu Tage. Aus dem beabsichtigten nüchternen Forschungsbericht über das Nazi-Unwesen wurde eine tragische Familiensaga rund um ihren Protagonisten Simon. Und aus der schillernden Person Simons, einem tüchtigen Geschäftsmann und umtriebigen Lebemann, wurde mit dem „Anschluss“ eine verantwortungsvolle Persönlichkeit, die in einen jüdischen Till Eulenspiegel schlüpfte und über vier Jahre mit den NS-Verfolgern Katz und Maus spielte.
Die Familie Hungerleider
Der Patriarch Jakob Hungerleider, der seine Familie nach Wien geführt hat – fast wäre man versucht, zu sagen, die Stadt, in der Milch und Honig flossen – hatte mit seiner Frau Rosa acht Kinder, von denen sieben bereits in der k.u.k. Haupt- und Residenzstadt das Licht der Welt erblickten. Er genoss hohes Ansehen und war gerichtlicher Sachverständiger und Schätzmeister. Nach seinem Tod 1913 war Simon das Familienoberhaupt. Zwei Geschwister, Irma und Gabriel waren ebenfalls Geflügelhändler, eine Schwester reüssierte als Pianistin, ein Bruder wollte es Simon in den USA gleich machen und beging nach einer Ansteckung im Bordell Selbstmord; auch die anderen Geschwister starben früh. Nach dem Anschluss gelang Gabriel mit Frau Karoline und Sohn Fritz die Flucht nach Schanghai während Irma gemeinsam mit einer beinamputierten Tante Selbstmord beging um dem KZ zu entgehen. Simons Sohn Robert schaffte es nach England und wollte Frau und Sohn nachkommen lassen, aber Marie erkrankte an Krebs und verstarb im Jüdischen Krankenhaus. Herbert kam in ein jüdisches Kinderheim von wo er nach Maly Trostinec deportiert und dort ermordet wurde.
Walter Schwimmer
Projektinitiator und -leiter.
Jahrgang 1942, wuchs im „Hungerleiderhaus“ auf, studierte Jus, engagierte sich früh in der ÖVP, die er 28 Jahre im Nationalrat vertrat, Von 1999 bis 2004 diente er als Generalsekretär des Europarates. Von 1981 bis 1999 war er Präsident der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft.
„Die österreichisch-jüdische Familie Hungerleider war im 19. Jahrhundert über Ungarn nach Wien gekommen, um hier friedlich zu leben und mit Geflügel und Eier zu handeln und erfuhr ein grausames Ende. Wie 6 Millionen andere Jüdinnen und Juden wurde sie Opfer des Antisemitismus, der die Gesellschaft vergiftet hatte. Das Hungerleiderhaus erinnerte noch in den Nachkriegsjahren an die Familie und ihr Schicksal. Unsere Forschung will die Aufgabe des Erinnerns übernehmen und namens der Familie Hungerleider ermahnen, niemals wieder!“
– Walter Schwimmer
Sofiya Sapryka
Forschungsassistentin.
Studierte Germanistik in Lemberg (Ukraine) und Politikwissenschaft (Wien). Forscht über gegenwärtige Konfliktauswirkungen historischer Ereignisse.
„Als Forschungsassistentin durfte ich faszinierende Archivalien erforschen. Diese waren für die Recherche ein integraler Bestandteil. Somit bringt unsere Forschung Leben in trockene Papiere und lässt die Opfer des Nationalsozialismus Gestalt annehmen. Gleichzeitig hat uns Frau Ingeborg Hungerleider (Witwe von Fritz Hungerleider, dem Sohn Gabriels und Neffe Simons, welche im Shanghaier Exil die Familie eingeheiratet hat), maßgeblich in der Projektforschung geholfen. Für ihr Mitwirken werden wir für immer dankbar sein.“
– Sofiya Sapryka
simon hungerleider
Unser Protagonist Simon hatte, als die Nazis kamen, vier Ehen, davon drei mit jüdischen Partnerinnen und eine, die letzte mit einer Katholikin, zwei Scheidungen, eine gewaltsame Trennung durch einen vermutlich erweiterten Selbstmord seiner Frau mit ihrem Geliebten, einen ehelichen und einen unehelichen Sohn und eine Kindesentziehung sowie einen anrüchigen Amerikaaufenthalt hinter sich.
Die fast fünf Jahre unter NS-Verfolgung vom 13.März 1938 bis zu seinem Tod in Theresienstadt waren bestimmt von Hilfen für seine Umgebung, interessanten Rechtsgeschäften bis hin zu einer „Schein-Scheidung“, dem Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde und der römisch-katholischen Taufe. Sehr wahrscheinlich wurde die nach deutschem Recht geschiedene Ehe durch eine geheime katholische "Gewissensehe" wieder vereint …
… das Hungerleiderhaus schenkte er seiner Frau Karoline, die es allen Versuchen der Nazis zum Trotz behalten konnte. Die als Alterssitz gedachte Villa Wild in Weidling (Klosterneuburg) konnte er nicht vor der „Arisierung“ retten (sie wurde nach der Befreiung seiner Frau restituiert).
Unsere Forschung (“Das Hungerleiderhaus”) ergab wesentliche Einblicke in das Leben und Wirken unseres Protagonisten, Simon Hungerleider.
Zeitzeugin:
INgeborg Hungerleider
Der jüngste Bruder Simons. Gabriel heiratete Karoline, geb.Uczer. eine Katholikin, die offiziell zum Judentum übertrat, aber privat ihren christlichen Glauben weiter praktizierte, was ihr Sohn Fritz als seine “jüdisch-katholische Kindheit” beschrieb. Die Familie emigrierte nach Schanghai. Gabriel wegen der mangelnden Hygiene im Spital verstarb. Fritz kam in China mit dem Buddhismus in Kontakt und wurde nach seiner Rückkehr Präsident der Buddhistischen Glaubensgemeinschaft Österreichs.
Seine Frau Ingeborg Hungerleider war uns bei unseren Nachforschungen als eine äußerst faszinierende Zeitzeugin sehr behilflich.
Frankfurt - shanghai- wien
Ingeborg Hungerleider, geb. Mannheimer, kommt aus einer Frankfurter Familie, erlebte als 12jährige das Novemberpogrom und den Brand der Frankfurter Hauptsynagoge und die Deportation des Vaters in das KZ Buchenwald. Nach seiner Freilassung konnte sie mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder nach Shanghai ins Exil entkommen. Mit 16 heiratete sie in die Familie Hungerleider und kam nach Kriegsende mit Ehemann und Schwiegermutter nach Wien. Sie ist mit 97 Jahren eine beeindruckende Zeitzeugin, die das Nicht-Vergessen des Holocaust einfordert.
Ihre berührende Botschaft:
“Man darf nicht vergessen, es sind 6 Millionen umgebracht worden,
nicht nur Jüdinnen und Juden, auch Sinti und Roma.
Ich will nicht rächen, ich bin auch nicht nachtragend.
Ich will nur eines, man soll nie vergessen, was geschehen ist”.
Das hungerleiderhaus -
eine Warnung vor dem Antisemitismus
Familie Hungerleider
Die österreichisch-jüdische Familie Hungerleider war im 19.Jahrhundert nach Wien gekommen, um hier friedlich zu leben und mit Geflügel und Eier zu handeln. Sie erfuhr ein grausames Ende. Wer wie der 8-jährige Herbert oder der Protagonist der Hungerleider-Saga nicht rechtzeitig emigrieren konnte, wurde deportiert, und ermordet.
NS-Regime
Wie 6 Millionen andere Jüdinnen und Juden wurden sie Opfer des Antisemitismus, der weite Teile der Gesellschaft vergiftet hatte. Was zuerst judenfeindliche Rhetorik und Pöbelsport (Lueger) war, endete in der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten.
Kein Platz für Anti-Semitismus
Antisemitismus ist wieder im Zunehmen. Verbal und auch physisch. Er begleitet Verschwörungstheorien, sicht- und hörbar auf Corona-Demonstrationen. Er manifestiert sich auf pro-palästinischen Aktionen und erreichte einen dramatischen Höhepunkt in den barbarischen Angriffen der Terrororganisation Hamas auf Menschen in Israel am 7.Oktober. Die Konsequenz einer demokratischen Gesellschaft kann nur sein:
Wehret den Anfängen! Walter Schwimmer
Gerne halten wir Ihr Interesse in Evidenz. Nehmen Sie dafür bitte mit uns Kontakt auf.
Freunde des Hungerleiderhauses
Als Mitglied der „Freunde des Hungerleiderhauses“ können Sie aktiv an der Erinnerung an die Menschen, die es einst belebten, und an der Bekämpfung
des Antisemitismus mitwirken!
- Jährlicher Mitgliedsbeitrag von 30 Euro.
- Teilnahme an Aktionen (bspw. die Pflege des Familiengrabes am Wiener Zentralfriedhof).
Wir laden Sie herzlich ein, den Freunden des Hungerleiderhauses beizutreten und die Beitrittserklärung auszufüllen.
Wir freuen uns auf Ihr Mitmachen!
"Der renommierte Böhlau-Verlag hat die Geschichte des Hungerleiderhauses und der Familie Hungerleider als Buch und e-Version herausgegeben”.
Erhältlich im gut sortierten Buchhandel, beim Verlag* und bei uns*.
Walter Schwimmer, Das Hungerleiderhaus
Die Geschichte einer mitteleuropäischen Familie und ihres Hauses
Hardcover, 171 Seiten; mit 11 s/w Abb.; 23.5 cm x 16 cm
ISBN: 978-3-205-21930-9
33 Euro, *zuzüglich Versandkosten
Aufruf
Die Lebensgeschichten Simons, seiner Verwandten und Hausgenossen beruhen auf 1800 authentischen zeitgenössischen Dokumenten, Zeitungsartikel, Akteninhalten und ähnlichen Quellen, die sorgfältig analysiert wurden und den Angaben der Zeitgenossin Ingeborg Hungerleider. Höchstwahrscheinlich gibt es aber noch Quellen, insbesondere private, auf die wir noch nicht gestoßen sind. Wenn Sie im Besitz oder der Kenntnis solcher Materialien sind, sind wir für Kopien und Hinweise sehr dankbar. Das gilt auch für die Familien Berthold Wessely und David Goldmann, die 1938 im Hungerleiderhaus wohnten.
Nicht vergessen!
Das Projekt ‘Hungerleiderhaus’ wird gefördert durch: